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Ostpreußische Persönlichkeiten
 
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Ein treuer Wegbegleiter
Agnes Miegel und Johann Wolfgang von Goethe
Marianne Kopp

Das berühmteste Geburtstagskind dieses Jahres wird zweifelsohne Johann Wolfgang von Goethe sein, der vor 250 Jahren, am 28. August 1749, in Frankfurt am Main geboren wurde. Landauf und landab gibt es 1999 ihm zu Ehren Vorträge, Lesungen, Ehrungen und Feierstunden. Zu den Geburtstagskindern und Jubilaren des Jahres 1999 gehört aber auch die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel, die vor 120 Jahren, am 9. März 1879, in Königsberg geboren wurde und vor 35 Jahren, am 26. Oktober 1964, in Bad Salzuflen gestorben ist. Mit ihren 85 Jahren hat die Goethe-Preis-Trägerin nicht nur ein ähnliches Alter wie der große Frankfurter erreicht, sondern dieser weite Lebensweg wurde von Beginn bis zum Ende von Goethes Dichtungen begleitet, geprägt und umspannt.

Agnes Miegel blieb das einzige Kind ihrer Eltern, eines niederdeutschen Kaufmannes und seiner um 20 Jahre jüngeren Frau, deren Vorfahren zu den Salzburger Glaubensflüchtlingen gehörten. Sie wächst in einem großen Kreis von Verwandten und Freunden auf. Der Vater führt das kleine Mädchen durch die Stadt Königsberg, "wie ein Bauer sein Erbkind durch den Hof führt", und teilt sein unerschöpfliches historisches Wissen mit, die Mutter aber bringt ihr Volkslieder und Gedichte nahe und liest ihr immer wieder etwas von Goethes Versen vor.

"Seinen Namen kannte ich noch nicht, als er zuerst zu mir kam wie zu Tausenden deutscher Kinder: als Spielgefährte, als Märchenerzähler, als geheimnisvoller, schirmender Greis, als schnurrenerzählender Gast, als Gespenster-beschwörender Zauberer – immer sich wandelnd, wie es das Wesen der Götter ist, die sich uns nur zeigen in der Gestalt, die wir zu ertragen vermögen."

Mit anderen Kindern lernt sie das "Röslein auf der Heiden" singen und sagen, die Mutter spricht ihr "Die wandelnde Glocke" vor. "Das freudige Getümmel der Zwergenhochzeit, der Spuktanz der Gespenster, der Erlkönig, der Zauberlehrling – immer vereint bleiben sie mit der geborgenen Heimlichkeit der Winterabende, dem Heideduft und Waldknistern des roten Ofenfeuers. Immer erscheint alles, was mit diesen Versen verknüpft ist, wie ein erstmaliges Erleben, aber wohl nur, weil sein Wort, wie der erste Anblick eines Geliebten, alles Vorhergehende auslöschte." Als sie schließlich das erste Mal mit Bewußtsein den Namen Goethe hört, entsinnt sie sich, "diesen Namen schon oft gehört zu haben, immer erfreut über den schönen Wohlklang des Vokals, den keiner ostpreußisch-flach zu sprechen wagte, sondern dunkel und mit deutlich verschwebender Endsilbe, feierlich".

Vielfältig sind die Erinnerungen und Aufzeichnungen Agnes Miegels über ihre Begegnungen mit Goethe. Manches mögen Bildungserlebnisse sein, die typisch für das Bürgertum ihrer Zeit waren, manches las die Mutter ihr bereits im zarten Alter vor, als die übrige Verwandtschaft sie noch zu jung für solche Gedanken hielt. So wächst das Kind mit Goethe heran, schreibt noch im hohen Alter eine balladeske "Erinnerung an die Stunde, wo Mutter mir das Märchen von Goethe vorlas" und fühlt sich von seiner Hand "so väterlich durch meine Kindheit geleitet". – In der Schule liest, lernt und spricht sie Goethes "Fischer" und ist tief beeindruckt von der beschwörenden Sprache der Ballade. Das lockende, unheimliche Element des Wassers, das ihr lebenslang wesensnah und magisch bedeutsam blieb, findet sie hier in Goethes Wortschöpfung "wellenatmend" berückend eingefangen, um es nie mehr zu vergessen.

Bevor sie selbst den Weg zur Dichtung findet, sind es immer wieder Goethes Werke und Gedanken, die ihr auch Sprache und Bewußtsein für ihre eigene Welt zu geben scheinen. "In ,Dichtung und Wahrheit‘ wanderte ich mit den Meinen durch sein Elternhaus, durch die freie Reichsstadt seiner Kindheit, immer noch ähnlich im Gefüge der eigenen Heimatstadt, aber wohlhabender und prächtiger als selbst Danzig es war. Und wir erkannten, wie heimgekehrt von einer Reise, klare Eigentümlichkeit und Schönheit der Heimat."

Zwei Pensionsjahre verbringt Agnes schließlich in Weimar und erlebt auch dort Goethes Welt mit offenen Sinnen. Sie geht durch sein Haus, "das noch längst nicht den sakralen Charakter trug wie heute, sondern so verwohnt und beinah gemütlich war, wie seine Enkel es vor kurzem verlassen hatten", aber das Bewegendste ist für sie "die Ilm, die gleiche Ilm, in der Frühlingsnacht schäumend überquellend, wie er sie besungen! … Und es war das Schönste von allem, das größte Erlebnis meiner ersten Jugend, … hier in Weimar den ,Faust‘ zu sehn. Nicht nur, wie auch in unserm Theater den ersten Teil, nein, den ganzen Faust, das große Festspiel der Osterzeit in dem alten Theaterbau, der immer noch auf ihn zu warten schien. Zwei Tage stand ich, jung unter Jugend, durchglüht von der Gewalt des größten Schauspiels, das alles in sich vereint."

Dort, in Goethes Weimar schließlich schreibt sie, angeregt durch das Theater und den Gedankenaustausch mit Gleichaltrigen und bewegt von einer ersten großen Schwärmerei, ihre ersten eigenen Verse. Das Tagebuch, das sie führen soll, füllt sich nach und nach mit Gedichten. Aber "es war das bitterste Kindeserlebnis, das keinem erspart bleibt, der ihn wirklich liebt, daß diese eigenen Verse, nicht nur ihrer Unvollkommenheit nach, auch im Klang, in der Wortwahl, in Reim und Rhythmus weltenweit von den seinen abwichen. Es folgte die zweite, schwerere Erkenntnis: daß ich mich nur auf ihn berufen, mich vor ihm nur zu dem eigenen Werk bekennen durfte …, wenn ich dieser Art, die mein Gewissen als die eigene erkannte, treu bleiben und sie weiter gestalten würde … Aber von nun an den eigenen Weg gehend, nicht mehr geführt von seiner Hand. Nie mehr als sein Kind. Sondern als der Einsame, der sich strebend müht, in seiner Kunst das Beste, das, womit er einmal auch vor ihm bestehn kann, zu geben, ,nach dem Gesetz, nach dem er angetreten‘!"

1901 erscheint ihr erstes eigenes Buch, ein Band mit Gedichten und Balladen – bei Cotta, dem Verlag Goethes und Schillers. Ihr selbst ist das damals freilich kaum bewußt, viel später erst versteht sie die ehrfürchtige Rührung ihrer Familie davor. Eine Schwesternausbildung in Berlin muß sie aus gesundheitlichen Gründen abbrechen, ebenso eine Ausbildung als Lehrerin. Auch die landwirtschaftliche Maidenschule bei München verläßt sie vorzeitig, als die kranken Eltern sie nach Königsberg zurückrufen. Jahrelang pflegt sie den erblindenden Vater bis zu seinem Tode, dann steht sie vierzigjährig allein und findet schließlich bei der Zeitung einen Broterwerb.

Durch die Berichte und Betrachtungen, die sie für das Feuilleton schreibt, findet sie auch als Dichterin schließlich zur Prosa und veröffentlicht große historische Erzählungen, deren Stoffe sie aus verschiedenen Epochen der ostpreußischen Geschichte wählt, bis in späteren Erzählbänden ihre Themen schließlich die halbe Welt umspannen.

Bald schon wird sie in ihrer ostpreußischen Heimat und in ganz Deutschland so bekannt, daß sie zahllose Lesereisen unternehmen muß und bedeutende literarische Preise erhält, nach dem Schillerpreis, dem Kleistpreis, dem Herderpreis und der Ehrendoktorwürde der Königsberger Universität schließlich 1940 den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Die Verleihungsurkunde ist "der beschwörenden Gestalterin der Kräfte des preußischen Lebensraumes" gewidmet und gilt "einer Dichterin, deren schöpferisches Wirken das Wort des Dichterfürsten erneut bestätigt hat: Willst Du ins Unendliche schreiten, geh nur im Endlichen nach allen Seiten!"

In ihren Dankesworten spricht die Dichterin von ihrer lebenslangen Beziehung zu Goethe und bekennt: "Es ist für mich das Bewegendste, daß ich dadurch heute zu ihm kommen kann wie das Kind zu seinem Paten, um ihm den Strauß zu geben, den es für seinen Geburtstag pflückte, ohne Scheu vor den Fremden seinen Spruch zu sagen, sicher im Gefühl der eigenen, verehrenden Liebe und des Verstehens des Andern."

Nach den Bildungserlebnissen der Jugend blieb Goethe der Dichterin ein treuer Wegbegleiter. Seine Werke, mit denen sie sich immer wieder befaßte, blieben ihr lieb und vertraut, verehrt und verinnerlicht. Doch seine Gestalt taucht nicht auf in dem weitgespannten Reigen der historischen Persönlichkeiten in ihren Erzählungen und Erzählgedichten. Dafür beleuchtet eine kleine Ballade einen ahnungsvollen Augenblick im Leben von Goethes Mutter, als diese mit ihm schwanger ging. Das Jahr der Erstveröffentlichung 1932 läßt als Anlaß eine Ehrung zu seinem 100. Todestag vermuten, und doch ist es in ganz eigenwilliger Weise eine Szene um den Ungeborenen, wie bei Agnes Miegel immer wieder Geburt und Tod ineinander greifen und in eine kosmische Ganzheit münden.

Im Alter weiß Agnes Miegel, wie begrenzt ihre frühe Goethe-Lektüre war. "Heute würden nicht nur Gelehrte über das Wenige lächeln, was wir von ihm kannten. Ein paar dünne Bände in oft schlechtem Druck umschlossen es und ein paar Büchelchen mit perlfeiner Schrift. Aber diese, die in keinem Bücherspind fehlten, waren wirklich unser, erworben und geliebt in jedem Wort." Wie die Dichterin hier Goethes "Iphigenie" als besonders lebensbegleitende Gestalt dieses Drama als liebstes nennt, ja bereits in früheren Jahren eigenes Geschick hinter diesen Versen ahnt, bestätigt sich auch in einem Erlebnis, das ihre jüngere Freundin und Biographin Anni Piorreck vom Februar oder März 1944 in Königsberg schildert.

Gemeinsam erleben sie eine gerade in dieser Kriegs- und Notzeit verstörende Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns "Iphigenie in Aulis". "Nach der Vorstellung geschah dann das Unglaubliche: Agnes Miegel setzte sich auf eine der Samtbänke in der Wandelhalle des Schauspielhauses, erklärte den Umstehenden, daß sie diesmal mit Hauptmann nicht mitgehen könne und sich lieber an Goethe halte und – begann Goethes ,Iphigenie‘ zu rezitieren, ruhig und sicher, mit einem etwas entrückten Blick. Ein kleiner Kreis stand sprachlos und staunend um sie herum, ungläubig lächelnd, aber auch sehr respektvoll, denn hier handelte es sich nicht etwa nur um den ersten Monolog, sondern weiter um alle Gespräche mit Arkas und Thoas, mit Orest und Pylades … Erst in der Mitte des zweiten Aktes wurden wir von den Garderobefrauen hinausgescheucht. Aber auch noch, als wir Agnes Miegel über die Hufenallee nach Hause brachten, sprach sie weiter die königlichen Verse. Welch eine seltsame, unvergessene Szene! Die alte brüchige Stimme mit dem ostpreußischen Klang in dem fahlen Schneelicht der verdunkelten Stadt, über die das Todesurteil bereits gesprochen war, und wir wollten es nicht wahrhaben und ahnten es doch insgeheim und lauschten ungläubig und betroffen der lange vergessenen Schönheit der alten Verse, die da noch einmal tapfer und hilflos, unbewußt und aus ahnungsvoller Bedrängnis dem nahen Untergang Königsbergs entgegengestellt wurden."

Gerade Iphigenies Klage aber wird der Dichterin durch die nun folgende Schicksalszeit von Vertreibung, Flucht, Internierung und Neubeginn in einem ihr fast fremden Rest-Deutschland gegenwärtig gewesen sein. – Im Februar 1945 muß auch Agnes Miegel die zerstörte Vaterstadt verlassen, kommt mit einem der letzten Flüchtlingsschiffe über die Ostsee nach Dänemark, bleibt eineinhalb Jahre in einem der riesigen Lager geborgen und eingesperrt, verbringt ein hartes Nachkriegsjahr bei der befreundeten Familie von Münchhausen in ihrem von Flüchtlingen überfüllten Wasserschloß Apelern und findet schließlich im niedersächsischen Bad Nenndorf eine bescheidene Altersheimat, wo ihr noch eineinhalb Jahrzehnte fruchtbarer Schaffenszeit und guter Gemeinschaft mit ihrer getreuen Adoptivtochter Elise (die ihr seit 1918 den Haushalt führte) vergönnt sind. Von ihren Landsleuten und Schicksalsgefährten zärtlich "Mutter Ostpreußen" genannt, reichen die Themen ihrer Erzählungen und Märchen doch bis in alle Welt. Sie gestaltet und erlebt noch die Herausgabe ihrer Gesammelten Werke in sechs Bänden (ein siebter Band folgt kurz nach ihrem Tode), empfängt noch einmal bedeutende Literaturpreise wie den von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und hinterläßt mit ihren persönlichen Aufzeichnungen auch eine Reihe von Gedichten, die ihre Altersweisheit und lebensbejahende Art beleuchten.

Als sie auf ihrem letzten schweren Krankenlager nicht mehr die Kraft hat, eine Zeitschrift oder ein Buch zu halten, schickt eine nahe Freundin ihr jeden zweiten Tag im Brief ein Goethe-Gedicht – "es waren die fünf Gedichte, die der Neunundsiebzigjährige nach seinem letzten Besuch auf Schloß Dornburg 1828 geschaffen hat". Wie aber Goethes Werk für sie Maßstab, Wegbegleiter und Lebenshilfe bedeutete, so wirkt Agnes Miegel selbst durch ihre Dichtungen auch nach ihrem Tode weiter, bleibt nicht nur den Ihren die unvergängliche, bilderkräftig-lebendige Stimme des verlorenen Landes Ostpreußen, sondern beschenkt auch unzählige neue Leser, die über ihre zeitlosen dichterischen Werke zu ihr fanden, so daß ihr ein bleibender Platz in der Geschichte der deutschen Literatur zugesprochen werden muß.


Der obenstehende Artikel wurde der Wochenzeitung "Das Ostpreußenblatt" vom 05. Juni 1999 entnommen.
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Geändert am 01.06.2000
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